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Der Schmerzensreiche entdeckt die Liebe – ausgerechnet auf dem Slayer-Konzert

Selbst der Schmerzensreiche musste einmal entspannen. Also ging es aufs Slayer-Konzert in der Wiener Stadthalle. Darauf freute er sich. Das musste sein.

 

Ein Bekannter des Schmerzensreichen, der österreichische Filmemacher und Künstler, Paul Poet (der Name ist Programm!) hatte auf Facebook schon gepostet: „Mit dem Rollator zum Slayer-Konzert – und dann sterben?“.

 

Ähnlich erging es dem Schmerzensreichen – eigentlich sei er zu alt für den Schmarrn, sagte er sich, aber: es musste, wie gesagt, sein! Ordentlich Oropax in den inneren Gehörgang gestopft, darüber eine Haube: das ging schon irgendwie. Einen Rangplatz hatte er auch noch ergattert, dann konnte er ja also sitzen, und musste auch nicht headbangen, oder gar im Hexenkessel, im Mosh Pit, mitmachen.

 

Slayer also. Eigentlich konnte er sich nur an ein älteres Album, das „South of Heaven“ hieß, erinnern, aber er hatte das Gefühl: bei der Abschiedstournee von Slayer musste er unbedingt dabei sein. Er hatte Slayer zwar noch nie zuvor gesehen – und überblickte im Grunde auch nicht deren Diskographie, auch nicht deren Bandgeschichte: nada, gleichwohl!

 

Der Schmerzensreiche wusste nur, dass sie mit Megadeth, Anthrax und Metallica zu den „Big Four“ des Thrash Metal zählten, und somit auch Teil seiner Pubertät waren (wenn er sich bloß erinnerte, ausgerechnet welcher Teil seines Aufwachsens für diese Brachialband stand?).

 

Gut, dass Anthrax, Lamb of God und Obituary im Vorprogramm spielten: geschenkt – ein Grund mehr, in die Stadthalle zu pilgern.

 

Weil er gerade eine Harnwegsentzündung hatte, musste er ständig Wasser lassen, was noch dazu weh tat. Und in der Stadthalle, am gar nicht so stillen Örtchen, bemerkte er: Da stellen sich Leute vor den WC-Kabinen an: „In der Stadthalle – beim Slayer-Konzert – stuhlen? Da kannst du dir ja alles holen!“, überlegte er so bei sich, als er sich an einem Rocker in seiner Jeans-Kluft mit den aufgenähten Bands vorbeizwängte, der ihm gerade eine Piss-Schüssel überlassen hatte – und wie der Boden jetzt schon pickte, grauslich war das!

 

Die Vorbands waren überraschend gut – der Schmerzensreiche meldete sich auch gleich für den Newsletter der Band Lamb of God an. Die gefiel ihm.

 

Dann war es also soweit: Slayer.

 

Und was er nur kurz nach dem Opener Reigning Blood sah, beglückte ihn auf eine Weise, bestürzte ihn aber gleichzeitig: in der Reihe vor ihm saß ein Teenager-Pärchen – und die machten ein Selfie, indem sie ihre Köpfe zur Bühne drehten und sich dabei fotografierten, wie sie einander küssten.

 

Das berührte den Schmerzensreichen. Mit dieser Geste hatte er nicht gerechnet, auch nicht damit, dass ein Teenager seine Freundin zum Slayer-Konzert ausführt, und sie sich küssen, und das gleich ins Netz stellen, und alle ihre Gymnasiasten-Freunde pflichtschuldigst mit einem Like reagieren.

 

Das Konzert von Slayer selbst fand der Schmerzensreiche großartig. Später ärgerte er sich, dass er das sich in einer Tour fotografierende Pärchen eine Reihe vor ihm nicht seinerseits fotografiert hatte. Dann aber sagte er sich: Und, was hätte ich machen sollen? Das etwa auch auf Facebook stellen? Und zynisch kommentieren – etwa mit „Liebe in Zeiten des Selfies und des Slayer-Abschieds?“ Nein, so etwas konnte er sich getrost sparen. Weil, warum? Was wäre er dann besseres als gleichsam ein „Voyeuer zweiter Ordnung“? Und wie musste man sich fühlen – wenn man das likte; das verdarb einem doch glatt den Charakter.

 

Nach dem Konzert, dem sehr beglückenden, dem sehr lauten (die Oropax waren tatsächlich notwendig gewesen), dem wahrlich brüllend lauten Konzert, nach all den brennenden Kruzifixen, den verkehrten Kreuzen, den Satanszeichen, überlegte sich der Schmerzensreiche noch, von den illegalen Händlern vor der Stadthalle ein – illegal gedrucktes Tour-Shirt, versteht sich – zu kaufen: ein gefaktes Tour-Shirt also.

 

Aber der Schmerzensreiche entschied sich dagegen, sagte er sich schließlich: Ich bin doch gar kein richtiger Slayer-Fan, in der U-Bahn-Station googelte er noch die Bandgeschichte der Schwer-Metaller – dann beschloss er, tatsächlich auf dem Heimweg, die Welt kann keine so schlechte sein, wenn sich Teenager auf dem Slayer-Konzert küssen (selbst wenn sie dabei ein Selfie machen müssen, um der Welt, zumindest ihrem FB-Freundeskreis, ihre große Liebe zu zeigen).

 

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