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Alles Walzer!

„Ich gehe mit Iris auf den Schulball!“, verkündete Adrian und wachelte mit zwei schön gestalteten Tickets vor meiner Nase herum. Ich fragte mich kurz, woher er das Geld dafür hätte, aber sein Opa hatte ein Faible für SEPA-Überweisungen, und da ich wusste, dass er seinen Kontorahmen nicht sprengen konnte, freute ich mich sehr, dass er endlich außerhalb seines 4,7“ Universums etwas erleben würde.

Ich scannte die Tickets, las mir die Prom-Rules durch, und erstellte in der Sekunde eine To-Do-List. Eine halbe Stunde später waren wir in der Shopping Mall, vor wenigen Jahren war es noch ein Einkaufszentrum gewesen. Wir betraten geschäftig einen Superstore, passierten mit sachlicher Arroganz die Abteilung für Casual Wear, und glitten standesgemäß mit der Rolltreppe zu den Anzügen.

Es war schon einige Jahrzehnte her, als ich meinen ersten - und einzigen - Smoking bei einem Herrenausstatter erstanden hatte. Völlig ahnungslos betrat ich damals eine Supper-Filiale in der Salzburger Innenstadt und warf der älteren Dame die Worte Moll Ball an den Kopf, die daraufhin sofort zur Tat schritt und mich mit allem ausstaffierte, was man dafür benötigte.

 

Schwarz oder blau?, war die einzige Frage, die ich beantworten musste, alles andere war vorgegeben: Vatermörderhemd, Fliege, Socken, Smoking.

„Schwarz“, entgegnete ich mit ungeahnter Abgeklärtheit, ging in die Umkleidekabine, probierte den Anzug und fühlte mich wie ein Trottel vom Südpol.

 

Meine Bekleidungsberaterin riss den Vorhang unwirsch auf, befahl mir, rauszukommen, zupfte grob an mir herum, sagte „Passt!“ und bereitete druckvoll die Rechnung vor. Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie mit einem angespuckten Taschentuch versucht hätte, mir den hellbraunen Flaum vom Gesicht zu wischen. Ich verließ das Geschäft mit einem riesigen Plastiksackerl und fuhr euphoriearm mit dem Bus nach Hause.

 

Am Tag des Balls drohten mir meine Eltern, mich zu verstoßen/erschießen, wenn ich nur daran dächte, mit meinen knöchelhohen, weißen Puma-Turnschuhen auf den Ball zu gehen. Ich wäre eine Schande für die ganze Familie und darüberhinaus könne man damit nicht ordentlich tanzen. Abgesehen davon, wäre es mir unmöglich, dass ich so eine Tanzpartnerin fände! Ich verwies verzweifelt auf Robert Smith von The Cure, was mir fast Schläge an der Eingangstür eingebracht hätte.

 

Natürlich wussten meine Eltern nicht, dass ich selbst mit maßgefertigten Rehlederschlüpfern keinen Schritt tanzen würde können, weil meine Freunde und ich nach zwei Einheiten bei der alten Frau Moll beschlossen, uns lieber dem Zauber des Zipfer-Bierhauses hinzugeben, als drahtige, schmalhüftige Turniertänzer zu werden. An den Ball selbst kann ich mich nur sehr vage erinnern, denn nach dem Beruhigungstee im altehrwürdigen Café Mozart setzte ich das Erlernte vom Hopfenstudio zur Perfektion um.

 

Adrian und ich sahen etwa 40 verschiedene Anzug-Modelle in ebensovielen Farben und Mustern auf gigantischen Metallringen hängen, die sich in ihrer Freizeit wohl als Teilchenbeschleuniger etwas dazu verdienten. Über unseren hilflosen Köpfen erschienen daraufhin zwei blinkende, rote Pfeile und sofort schoss ein Styling-Expert weiblichen Ursprungs auf uns zu.

„Ich brauche einen schwarzen Anzug für einen Ball“, erklärte Adrian unaufgefordert den Grund unseres Erscheinens. Während Adrian Fachtermini der Modeindustrie an den Kopf geschleudert wurden, überlegte ich mir, ob die einem Manga entsprungene Verkäuferin mit einem 3D-Drucker erschaffen wurde, oder, ob uns ein Hologramm bediente.

Der ausgewählte Anzug passte wie angegossen, war knitterfrei, atmungsaktiv und bis 100 Fuß wasserdicht. Ohne, dass wir irgendetwas sagen mussten, erschien eine zweite Was-auch-immer mit der passenden Krawatte, die sich mit 1,45 Newtonmeter selbst um Adrians Hals schlängelte. Adrian betrachtete sich selbstgefällig im Spiegel, fühlte sich wie Will Smith in Men in Black, während mir Dan Aykroyd aus Blues Brothers in den Sinn gekommen war.

Wir wurden an die Kassa geführt, wo der Anzug und alle Accessoires bereits in einer fröhlich knitternden Papiertragetasche bereit lagen. Der SE 2.1 verabschiedete sich freundlich und stellte sich zufrieden surrend in den Stand-by-Modus.

 

„So, das war einmal das Dry-Aged-Slim-Fit-Medium-Rare-Sakko, die passende Almost-Regular-But-Still-Fresh-Hose, die MIB-II-Tie dazu, alles in Van Helsing Black. Wie darf ich es dir machen, bar oder Karte?“, wurde ich vom Sprachmodul am Counter gefragt.

„Bar, bitte“, entwich es mir zögerlich.

„So, hier ist dein Beleg, viel Spaß mit euren Teilen, baba.“

Ich übergab Adrian die Papiertüte und wir verließen stolz den Store.

 

Drei Wochen später war es soweit, der Tag des Balls war gekommen. Adrians Entspannung hielt bis zum Abfahrtszeitpunkt an. Einzig das weiße Hemd, was er sich vorbereiten hätte sollen, hing noch triefend nass auf dem Wäschetrockner. Ersatz war schnell gefunden, er schlüpfte entgegen unseres Vorschlages in die weißen Sneaker und wir preschten los, um Iris und eine weitere Freundin abzuholen. Adrian stieg aus, klingelte, die Tür öffnete sich, alle stiegen strahlend, wohlriechend und topgestylt ins Auto ein. Ich besprach mit Adrian noch kurz die Tücken von unkontrolliertem Alkoholgenuss, er fragte mich, ob das Konsumieren von Cannabis tatsächlich strafbar wäre. Etwas verunsichert gab ich ihm eine großzügig kalkulierte Summe und vereinbarte den Zeitpunkt des Abholens um 01:00 Uhr.

 

Zu Hause angekommen, wich meine Aufregung, und Müdigkeit breitete sich erbarmungslos in mir aus. Als erfahrener Nachtdienstleistender wusste ich um die Wirkung von Kaffee und trank unerschrocken bis knapp nach 23:00 Uhr an die zehn Espressi. Einzig unsere Kaffeevollautomat zweifelte an meinem Schlaf-Wach-Rhythmus und erinnerte mich mit einer sachlichen Email an seine gesetzlich vorgeschriebenen Ruhepausen.

 

Zehn Minuten nach Mitternacht klingelte das Telefon, Adrian bat um Verschiebung der Abholzeit und erklärte: „Es läuft besser, als gedacht, ich bin trotz all der Shots noch nicht dicht, wir würden gerne noch ein bißchen viben, vor 02:00 Uhr brauchst du eigentlich nicht kommen!“.

„Aha, gut, freut mich, ich hole dich dann um halb 2 ab, ich bin nämlich schon sehr müde“, bat ich um Verständnis.

„Ok, bis dann, ich habe eh nur noch 30 Euro.“

 

Meine Frau wünschte mir unterdessen eine gute Nacht, es wäre schon sehr spät. Ich möge doch, bitte, nicht einschlafen, schließlich müsste ich ja noch das Kind abholen. Ich ging in die Küche und sah ein DO NOT DISTURB! Schild vor der Brühgruppe baumeln.

Als erfahrener, mit allen Flüssigkeiten gewaschener Zivildiener bereitete ich gähnend mein Auto auf die wahrscheinlich volltrunkenen Partygäste vor. Die Sitzschutzfolien von der letzten Innenreinigung hatte ich selbstredend nicht weggeworfen, auch befanden sich im Handschuhfach einige Kotztüten, die seit Jahren auf ihren Einsatz brannten.

 

Brechen sie auf zu neuen Ufern.–Auch für harte Brocken.–Danke für ihr Feedback.–und Vietnam Airlines waren darauf zu lesen. Ich legte sie aufgefächert auf den Beifahrersitz, holte ein paar alte Decken und legte sie, von Pulp Fiction inspiriert, faltenfrei über die Rückbank.

Etwas zu früh fuhr ich los und patrouillierte durch das nächtliche Wien. Überall spazierten und torkelten Jugendliche in feinen Roben herum, ich müsste mich also in der Nähe des Epizentrums befinden. Adrian rief unterdessen an, wo ich denn bliebe, es wäre schon halb zwei. Wenige Augenblicke später stiegen die Kinder unversehrt, stabil und bestens gelaunt ein. Einzig die unschuldige, sommerliche Parfumnote wurde durch ein Bouquet von gelösten Elektrolyten und Aceton-Untergruppen ersetzt.

 

Die Kinder kuderten um die Wette, sangen explicit lyrics von eben gehörten Dancefloor-Klassikern, sahen sich eben gedrehte Videos auf ihren Handys an, und waren schlichtweg glücklich.

Ich hielt vor Irisʼ Haus an, Adrian begleitete gemäß den Knigge-Rules die beiden jungen Frauen zur Tür, herzte und verabschiedete sie, und stieg lächelnd ins Auto retour. Die gute Laune verkrallte sich im Innenraum des Wagens und geleitete uns durchs nächtliche Weinviertel.

Adrian plapperte und erzählte, sein aufleuchtendes Display ignorierend, wie schön es denn nicht gewesen war, und dass er sich schon auf den nächsten Ball freute.

Ich lobte meinen Sohn über den grünen Klee und wich den - völlig zu Recht vom Vertrauensgrundsatz ausgenommenen - Rehherden elegant aus.

 

Zu Hause angekommen, fiel meine Müdigkeit, die mit angesäuerter Miene und überkreuzten, nervös wippenden Beinen auf der Couch ausharrte, mit den Worten Na endlich! über Adrian her. Sein Anzug goss sich lautlos auf den Badezimmerboden aus, und ich war erfreut, dass er all die versprochenen Eigenschaften tatsächlich hatte.

Wenige Augenblicke später gesellte ich mich zu meiner zufrieden schlafenden Frau und wartete geduldig, bis das Koffein aus meiner Blutbahn hinauskomplimentiert wurde.

 

THOMAS & ADRIAN VITZTHUM #10