PICHLACEKS ENDE
Die Mossad-Variante
[20. Oktober 2023, 08:52 Uhr]
„Dimitri, die kommen uns sicher auf die Spur, du Schmock! Leharbeen [Scheiße]." „Geh, Shlomo, sicher nicht. Lo tidag [Keine Sorge]! Wir sind in Österreich!" „Fuck!", brachte es der Fahrer Bryan auf den Punkt.
Sie legten sich allzu schnell in eine scharfe Rechtskurve beim Tennisplatz – dort, wo ihr Opfer eigentlich nächtigen wollte; im Haus, das seine Lebensgefährtin gemietet hatte –, jetzt krachte Bryan mit der Stirn ins Lenkrad. Ungebremst. Bei 40 km/h.
Er fluchte – und wischte sich das Blut, das ihm in die Augen zu tropfen drohte, mit dem Handrücken breitflächig über die Stirn.
„Shit!", trommelte Bryan auf das Lenkrad, „and all this because this motherfucker Pichlacek wanted to spill the fuckin' beans about Kurtz and his boyfriend!"
„Ma zeh klal omeret? [Was soll das überhaupt heißen?] Ani ohev shokhin! [Ich mag Bohnen!]"
„Bist du verletzt?", wandte sich Shlomo, der zwischen dem amerikanischen Fluchtfahrer und seinem israelischen Kompagnon eingezwängt saß, an Bryan.
Während die Chefitäten in einer schwarzen BMW X7 M50d raschestmöglich aus Rassatzbach Richtung Moitern an der Donau davonbrausten, mussten sich die Mordsbuben im Führerhäuschen eines „geborgten" Klein-LKW dicht aneinanderdrängen, um sich aus dem Staub am Seitenarm der Donau machen zu können; seit dem Sommer hatte es kaum mehr geregnet, der Seitenstrang der Donau führte daher nur Tiefwasser, vereinzelt waren schon kleine Sandbänke ausgeapert, sprich aufgetaucht.
Die Mordsgesellen hatten den weißen Klein-LKW von „Strada Donau", der heimischen Wasserstraßen-Servicierungs-Gesellschaft, ja nur „ausgeborgt", also mussten sie diesen schnell noch zum Bauhof zurückbringen – um sich dann endgültig nach Wien verdünnisieren zu können (hoffentlich halbwegs unproblematisch!), während die Leiter dieser Nacht-und-Nebel-Aktion, die Mossad-Offiziere also, sowie die benötigten ITler (heute hat man ja am besten immer gleich einen Cyber-Spezialisten in der Familie) Krems schon längst hinter sich gelassen hatten, und schon auf der Autobahn nach Wien waren.
Ach, ja, und im BMW saß natürlich auch noch der Ex-Bundeskanzler Kurtz – der murmelte, immer wieder, als er in Gedanken die Leerstellen, sprich die unaufgelösten Stränge durchging: „Darum muss sich dann halt die Polizei – der Faki – kümmern. Die Schwuchtel-Geschichte darf nie rauskommen!"
Strada-Donau-Driver Bryan hingegen brüllte jetzt aus vollem Halse – seine Mitfahrer pflichteten ihm kopfnickend bei: „Pichlacek! Why couldn't you just shut the fuck up about the cocaine and the gay shit!"
[08:50 Uhr]
Es gab keine polizeilichen Absperrungen – gab es doch eine entsprechende (Nicht-)Weisung „von ganz oben" –, ein weißer Klein-LKW der Strada Donau fuhr den Weg somit sang- und klanglos Richtung Schranken, wo auch das Polizeiauto parkte.
Zwei uniformierte Polizistinnen standen am Ufer und sahen zu, wie der LKW über die – natürlich vorhandenen – Spuren aus der Tatnacht am Treppelweg fuhr.
Kurzum: Die Polizei vor Ort duldete es sehenden Auges, ja mit Schulterzucken, dass Spuren mit allergrößter Selbstverständlichkeit – in der am plumpesten denkbaren Weise – verwischt wurden.
Dream Vision Security hatte seine österreichischen Kontakte perfekt aktiviert.
[07:46 Uhr]
Es wurde immer noch planiert. Die Spuren am Treppelweg. Mit dem herbeigebrachten Klein-LKW von Via Donau, der Servicegesellschaft, in deren Aufsichtsrat Kurtz' Strohmänner saßen – Überbleibsel aus seiner Kanzlerzeit, als er sich ein ganzes Netzwerk aus gefügigen Beamten aufgebaut hatte.
Sie wussten, gleich würde der Moment kommen, wo „ein wirklicher" Strada-Donau-Mitarbeiter auftauchte – er würde sich in den Klein-Bagger setzen, und, no, na net: baggern; natürlich würde dieser sofort erkennen, dass die Leute hier im Klein-LKW von Strada Donau keinesfalls dieser angehören konnten. Die Agenten mussten sich also in ihren „Aufräumarbeiten" sputen – genau genommen ist ja die Definition einer „Nacht-und-Nebel-Aktion" die, dass Fehler, Ungenauigkeiten, ja: Ungemach in Kauf genommen werden müssen.
Besonders wenn es um Kurtz' dunkelste Geheimnisse ging.
[06:44 Uhr]
Bei einem 1,90-Meter-Lackl brauchte es schon zumindest zwei, besser sogar eher drei Mossad-Akteure respektive Agenten, die den toten Pichlacek zu(m) Wasser beförderten: Um die Böschung nicht zu „dekontaminieren" – dort mussten ja hierauf Spuren gefakt werden –, hievten sie den Toten über das Kanalrohr hinab zu den recht flachen Steinblöcken, wo Shlomo schon stand, Bryan hielt oben den Kopf Pichlaceks, Dimitri übergab die Beine an Shlomo und kletterte dann auch hinunter, um seinerseits den Kopf von Bryan oben über dem Rohr in Empfang zu nehmen. Dann trugen Shlomo und Dimitri Pichlacek ins Wasser.
„Rak rega [Moment]", sagte Dimitri, „ani hofe oto [ich drehe ihn noch um]."
„And with that, you want to distract attention from Dream Security and make it look like Russian mafia – or are you just stupid? [Und damit willst du die Aufmerksamkeit von Dream Security ablenken und es wie russische Mafia aussehen lassen – oder bist du einfach nur blöd?]", fragte Bryan – und erhielt dafür von Dimitri einen giftigen strafenden Blick, der Bryan in der Dämmerung nicht entging.
„Kurton amar lanu laasot et zeh kakh! [Kurtz hat uns gesagt, wir sollen es so machen!]", ließ Dimitri zwischen den Zähnen hervorpressen.
„Mit dem Gesicht nach oben" – das war Kurtz' spezielle Anweisung gewesen, um von den wahren Motiven abzulenken. Er wollte, dass es wie ein Mafia-Mord aussieht, nicht wie ein politischer Auftragsmord – wegen der ihn kompromittierenden Dossiers, die Pichlacek den Medien zuspielen wollte.
Die Leichenposition war also Teil einer Verschleierungsstrategie: „Das Gesicht nach oben" – sollte eine falsche Fährte legen.
[06:13 Uhr]
„Guten Morgen, Faki, entschuldige bitte, dass ich so früh …", ging Anna Holz nervös im gemeinsam mit ihrer Freundin Carina Wurm und eben Pichlacek bewohnten Haus in Rassatzbach auf und ab.
„Na, bin i ja selber schuld, wenn i abheb'. Was gibt's Anna?
Erste Reihe fußfrei, im BMW X7 – die Scheinwerfer waren auf die einzige Einstiegsstelle in diesem Bereich gerichtet – beobachtete Mossad-Oberst Goldstein die mühselige Kleinarbeit der Agenten am (Tat-)Ort, während er per verschlüsseltem Satellitentelefon Hulia in Tel Aviv Bericht erstattete.
„Du, der Pichlacek ist net da." „Was soll heißen: net da?", wischte sich der Bundespolizeipräsident den Schlaf aus den Augen. „Na, er is net z'Haus."
Dass sie ihn vor wenigen Stunden persönlich zum Heurigen ihrer Eltern geführt – und damit in die Falle gelockt – hatte, überging sie geflissentlich. Der Mossad bezahlte gut für ihre Dienste als V-Frau.
[06:02 Uhr]
Endlich war er da: Der Klein-LKW von Strada Donau. Persönlich vorbeigebracht von Kurtz' Kontaktmann bei der Wasserstraßenverwaltung.
Davor gab es unnötiges Anblaffen untereinander und blödes-stumpfsinniges Warten.
Gleich wurde mit den Planierarbeiten begonnen.
„Na, wenn wir ihn schon nicht eingraben – dann können wir damit wenigstens unsere Spuren verwischen", scherzte Kurtz nervös. Die Kokain-Fotos und die Schwulen-Videos durften niemals an die Öffentlichkeit.
[05:53 Uhr]
Scheiße! Wir machen mit dem BMW hier viel zu viele Spuren, wirbeln zu viel Staub auf, war der allgemeine Tenor unter den israelischen Agenten. Was sollen wir also machen?
In dem Moment – machina ex nihilo – kam Kurtz' Mann mit einem Klein-LKW von Strada Donau daher. Die österreichischen Seilschaften funktionierten perfekt.
[05:51 Uhr]
Jetzt fuhren sie mit dem BMW zum Nebenarm der Donau. Im Gepäck: der tote – inzwischen aber wieder: angezogene – Pichlacek.
Und die USB-Sticks mit seinen brisanten Kurtz-Dossiers, die vernichtet werden mussten.
[05:45 Uhr] JETZT MÜSSEN WIR SEINEN TOD FAKEN
Jetzt ging Dimitri zum Kühlschrank im Gewölberaum, er fischte ein Plastiksackerl zum Kühlen von Paradeisern heraus, leerte selbige in die Abwasch – und zog das Plastiksackerl Pichlacek über.
Der schnappatmete. Immer – und immer wieder. Dimitri zog fester zu.
Alle anderen schauten ungerührt und wie paralysiert zu: Bryan fing sich als erster, er stürzte herbei – und zog Dimitri an den Schultern zurück.
Dabei fiel Pichlacek auf den Boden: mit weit aufgerissenem Mund im Plastiksackerl und schreckgeweiteten Augen: im Angesichte seines Todes musste er seinem Mörder ins derbe Antlitz schauen.
Pichlacek lief schon bläulich an: Zyanose.
„Lo! [Nein!]", stieß Shlomo aus. „Fuck!", schlug Bryan Dimitri mit der Faust.
Das entstehende Gerangel wurde zerrissen, Mossad-Oberst Goldstein ging dazwischen, und ließ es erst gar nicht zu einem Handgemenge bzw. einer Schlägerei kommen.
Bryan und Dimitri atmeten schwer.
„Khara! Ma anu osim akhshav? [Scheiße! Was machen wir jetzt?]", fragte Dimitri.
„Teper my dolzhny zintsenirovst yego smert [Jetzt müssen wir seinen Tod faken]", sagte Kurtz kalt – er hatte ein paar Brocken Russisch gelernt, um seine Geschäfte in Osteuropa abzuwickeln.
Die Mossad-Agenten verstanden ihn.
[05:36 Uhr]
Dimitri lief dem flüchtenden nackten Pichlacek hinterher – und hob mit dem Baseballschläger gegen dessen rechten hinteren Oberschenkel.
Pichlacek taumelte und stürzte – schreiend griff er nach hinten, um die Hand schnell zurückzuziehen: der Angreifer hatte das Fleisch bis zum Oberschenkelknochen freigelegt, was dem Juristen höllische Schmerzen bereitete.
Noch versuchte er, weiterzurobben, doch Dimitri packte ihn von hinten – und schmiss ihn in das schmale Donauflussbett vor dem Heurigen.
Pichlacek kullerte – sich mehrmals überschlagend – hinunter: und stand, sehr zur Überraschung aller Akteure, gleich wieder auf.
„Dimitri, ma ata oseh kan?! [Dimitri, was machst du denn hier?!]", rannte jetzt Shlomo herbei.
Die Agenten kannten einander aus der Mossad-Akademie, sie hatten zusammen in der Sayeret Matkal eine „Spezialausbildung" absolviert, auch Bryan war ein versierter Kämpfer und mit von der Partie.
Dimitri stammelte nur etwas von „Pekudot me-Hulia! [Befehle von Hulio!]"
„Ah, and now the tech billionaire is giving kill orders? What's next? [Ah, und jetzt gibt der Tech-Milliardär Tötungsbefehle? Was kommt als nächstes?]"
Dimitri blickte nur kurz auf, dann bearbeitete er Pichlacek weiter – zuerst mit dem Baseballschläger, dann mit seinen Fäusten.
Im Protokoll sollte später verzeichnet werden: Die im Obduktionsprotokoll beschriebenen Verletzungen am Kopf (Stirn/Augenbraue) rechtsseitig und in der Halsmuskulatur linksseitig können nicht anders als Folge stumpfer äußerer Gewalt verstanden werden, sehr wahrscheinlich durch Schläge – typisch für Mossad-Methoden, aber bewusst so ausgeführt, dass sie wie Mafia-Gewalt aussehen.
„Tamid! [Aufhören!]", schrie Kurtz.
Doch da war es schon zu spät. Jedenfalls: fast. Pichlacek sank auf der Böschung zu Boden.
Shlomo kam herbei, und fühlte seinen ganz schwachen Puls.
Sie trugen ihn in den Heurigen – und legten ihn auf den Stammtisch.
Aus tiefster Überzeugung drängte Kurtz die Geheimdienstagenten: „Lassen wir es wie einen Selbstmord aussehen – oder wenigstens wie einen Unfall ... Hauptsache, die Dossiers kommen nie raus!"
Der Nachsatz: „Und! Geh' bitte! Bringt's ma den wo anders hin. Lasst's ma den net do da do, beim Heurigen der Eltern der Anna afoch so liegn. Bringt's den woanders hin."
Die Agenten verstanden.
Shlomo bemühte die Dream Security Vision App auf seinem verschlüsselten Handy, „sham anu khayavim lehaniakh oto [dort müssen wir ihn ablegen]".
Bloß möglichst weit weg vom Holz-Heurigen.
[05:33 Uhr]
Gerade, als das Hackerprogramm „Phantom Eagle" – eine Spezialanwendung von Dream Vision Security – anfing, beim Durchrechnen wirklich heiklen Dokumenten auf den Grund zu kommen – wachte der nackte Pichlacek auf.
Sehr zum Missfallen aller Mossad-Akteure.
Er lief aus dem Heurigen – die anderen ihm hinterdrein.
[01:39 Uhr]
Nachdem Anna mit ihrem Auto um die Ecke gebogen war, nahm der Mossad-Offizier eigenhändig die Holzsche Notiz: und verbrannte sie in der Abwasch in der Küche – genau nach dem Lehrbuch der Spurenbeseitigung, das er in Herzliya gelernt hatte.
[01:37 Uhr]
Anna Holz packte Pichlaceks Gegenstände zusammen. Als da wären:
Anna dachte nicht groß darüber nach, ob Pichlacek nicht eines dieser Gegenstände schon bald wieder benötigen könnte – sie wusste ja, dass er nie wieder aufwachen würde. Der Mossad bezahlte sie gut für ihre Dienste.
[01:34 Uhr]
In der Diskussion mit dem Mossad-Offizier – sie ließ sich ja überreden, alle Schlüssel mit nach Hause zu nehmen – verhandelte sie doch wenigstens dies heraus: „Ich schreibe ihm noch eine Notiz." Dann riss sie von einem Heurigenblock den obersten Zettel und schrieb darauf:
Lieber Christian!
Ich komme dich morgen abholen.
Wenn du was brauchst: ein Telefon steht in der Küche.
Ich bin erreichbar unter 0676/50 89 215
Wenn du Hunger hast, hole dir was aus der Küche.
Bis morgen.
Schlaf gut! (für immer...; dachte sie sich)
LG,
Anna
[01:20 Uhr]
Die Verbindungen von Ex-Bundeskanzler Kurtz zum israelischen Tech-Milliardär Shaul Hulia waren seit der Gründung von Dream Vision Security im Jahr 2022 Gegenstand intensiver Medienberichterstattung. Demnach hatte sich Kurtz nach seinem Rücktritt als Bundeskanzler mit dem Pegasus-Entwickler zusammengetan, um eine neue Generation von Staatstrojanern zu entwickeln und zu vermarkten.
Dream Vision Security mit Sitz in Tel Aviv und Niederlassungen in Wien und Abu Dhabi war innerhalb kürzester Zeit zu einem der führenden Anbieter von Überwachungssoftware für Geheimdienste und autoritäre Regierungen geworden. Die Software konnte nicht nur Handys und Computer infiltrieren, sondern ganze Netzwerke übernehmen – ein mächtiges Werkzeug für moderne Spionage.
Auf der Homepage von Dream Vision Security heißt es: „Wir schaffen die Zukunft der digitalen Sicherheit durch innovative Lösungen, die Regierungen dabei helfen, ihre Bürger zu schützen und Bedrohungen präventiv zu erkennen."
Was nicht drinsteht: Die Software wurde an Dutzende von Ländern verkauft, darunter auch solche mit fragwürdigen Menschenrechtsbilanzen. Jeder Kunde wurde damit gleichzeitig zu einem potentiellen Erpressungsopfer – denn Dream Vision Security behielt selbstverständlich Hintertüren zu allen installierten Systemen.
Kurtz hatte mit seiner politischen Erfahrung und seinen internationalen Kontakten die Türen zu europäischen Regierungen geöffnet, während Hulia die technische Expertise lieferte. Eine perfekte, aber explosive Partnerschaft.
Und jetzt ging es ums Eingemachte: Pichlaceks Laptop und seine USB-Sticks voller kompromittierender Kurtz-Dossiers.
„Beli sismen lo hakherim yahapshu le-netzakh [Ohne Passwort werden die Hacker ewig suchen]", warf der Mossad-Agent ein. Darüber wunderte sich Kurtz – so eine fortschrittliche Dream Vision Security Technik, und dann findet die nicht einmal das.
Man grübelte – und verwarf; man hatte Ideen (der Name der Freundin und Zahlencodes dazu), fand aber nichts.
„Klassiker!", jubelte Kurtz, nachdem er einen in der aus Pichlaceks Barbour-Jacke herausgezogenen Geldbörse im Geheimfach hinter den Plastikkarten gefundenen Zettel mit den handschriftlichen Passwörtern entfaltet hatte, und sich dachte: Wofür braucht es dann eigentlich noch die Geheimdienste, wenn eh ich der Chef bin?
Das Passwort zum Laptop eingegeben, erhielten sie Zugang zu Pichlaceks privatem Laptop.
Zuerst verschafften sie sich einen groben Überblick.
Dabei unterstützte sie „Phantom Eagle" – ein von Dream Vision Security kreiertes Tool, um größere Datenmengen generell, aber auch gezielt zu durchsuchen.
(Unnötig zu erwähnen: Insgeheim kopierte natürlich die Software die Daten parallel zum Analysedurchlauf in eine Mossad-Cloud, wo Hulia persönlich Zugriff darauf hatte.)
Kurtz lief im gewölbten Raum des Heurigens nervös auf und ab, worauf der Mossad-Offizier fragte: „Yesh lekha baya? [Haben Sie ein Problem?]"
„Na, eher wir", gab Kurtz zurück – seine Hände zitterten leicht.
Und ehe der Geheimdienst-Offizier noch fragen konnte, wie Kurtz das meinte, ergänzte der Ex-Bundeskanzler: „Was machen wir jetzt mit den verfluchten USB-Sticks? Da sind Fotos drauf... und Videos... von mir..."
Jetzt schauten sich alle an. Die Kokain-Fotos aus seiner Kanzlerzeit. Die kompromittierenden Videos aus einem Wiener Schwulenclub. Hm. Ja, wirklich! Gar nicht so blöde Frage.
„Nu, tov, namkhak et hakol – ani omeret: hamkhika hagdola – ve-nashmid et ha-kazetim [Na, besser: alles löschen – ich meine: die große Löschung – und die Kassetten vernichten]", fuhr es dem Mossad-Offizier ein.
Kurtz nickte erleichtert. So sollten sie es machen. Seine politische Karriere und sein weiterer Weg als Wirtschaftskapitän hing davon ab.
[01:14 Uhr]
Das Handy zu entsperren, war dank des schriftlichen Codes jetzt ein Leichtes. Schnell löschte der Mossad-Offizier die WhatsApp-Kommunikation „nach der Tankstelle", auch die Anrufliste cancelte er. Das war ja noch die einfachere Übung – gelernt in der Mossad-Akademie von Herzliya.
Sofort griff der Mossad-Offizier nach Vollbrachtem nun in Pichlaceks rechte Hosentasche – und holte einen USB-Stick hervor. Gleich wurde dieser eingesteckt, ans System angeschlossen – oder, wie man eben sagen möchte.
Und? Was gab es da zu entdecken?
Die nächsten Stunden waren die ITler und der Mossad-Offizier damit beschäftigt, die Dokumente zu sichten; nur oberflächlich, muss man schon sagen, denn es mangelte ihnen am Gespür für eine notwendige gegenständliche thematische Tiefenbohrung und die politische Sprengkraft auch nur in Nebensätzen versteckter brisanter Details über Kurtz' Privatleben; dafür hatten sie ja Kurtz, der immer wieder anmerkte „Löschen!" und „vernichten!" sowie „das darf niemand sehen!" oder eben auch „des ruiniert mi endgültig!".
Kurtz und der Mossad-Offizier stritten sich jetzt um den USB-Stick aus Pichlaceks Hosentasche – dessen „Lebensversicherung", wie er unentwegt an diversen Adressen und gegenüber krass unterschiedlichen Personenkreisen zu posaunen pflegte. Der israelische Geheimdienstmann wollte den USB-Stick erst für Hulia sicherstellen, die Nervensäge Kurtz schaffte es aber, dass er nach einer Schimpf-und-Schande-Suada alle Kopien erhielt. Na eben, geht ja!, dachte sich der Ex-Kanzler.
Hoppala: in der Luis-Vuitton-Laptoptasche fanden sich auch noch fünf weitere USB-Sticks.
„Anu naamik et zeh [Wir kopieren das]", sagte der Mossad-Offizier, „aval zeh lo yitkabel ba-zman she-anu ikhol li-r'ot dokument le-dokument [das geht sich aber zeitlich nicht aus, dass wir Dokument für Dokument durchsehen]."
„Na, dann machen wir eben nur eine schnelle Suche. Das ist ja wohl das Mindeste", verhandelte Kurtz mit dem obersten Mossad-Agenten einen Deal aus.
Und so geschah's.
Der Mossad suchte auf dem Laptop und auf den USB-Sticks nach eigenen Begriffen – dann warf aber Kurtz panisch ein: „Geht's! Sucht's auch nach Kokain, nach schwul, nach Stricher!"
Und so geschah's.
Man fand alles – sehr oft sogar –, „das bleibt drin!", war der verzweifelte Kommentar von Kurtz. „I mein, das muss alles weg! Alles löschen!"
Nach Art Bull Shit Bingo – ihm fielen die abenteuerlichsten Suchbegriffe zu seiner Person ein –, fand Kurtz schließlich: „So! Und jetzt müsst ihr auch nach mir mit meinem richtigen Namen suchen. Nicht nur ‚Kurtz'."
Ungefähr die Hälfte der Dokumente auf dem Laptop handelte von Kurtz – das ließ den Ex-Bundeskanzler alles andere als kalt; aber was war das? Pichlacek hatte eigene Ordner „kurtz koks" sowie „kurtz schwul" und sogar „kurtz erpressung" angelegt.
Man mutmaßte nicht lange, was diese Ordner enthielten.
„Löschen! Alles löschen!", befahl Kurtz mit brüchiger Stimme. „Das würde mich vernichten!"
Das wunderte den Mossad-Operationsleiter jetzt nicht, aber: nachdem sie ohnedies parallel alles für Hulia kopierten, erfüllten sie – vorgeblich – Kurtz' Herzenswunsch, der das „Löschen" aufmerksam mitverfolgte, ja am Bildschirm klebte, und dann etwas in der Art murmelte von „wär' ja noch schöner".
„Pashtu oto, ulay yesh lo od – be-makom akher – kazeta o glilon [Zieht ihn aus, vielleicht hat er ja noch – sonstwo – einen Stick oder einen Chip stecken]", ordnete schließlich der Mossad-Offizier an.
Und so geschah's – sie fanden allerdings: keine weiteren Datenträger.
[01:11 Uhr]
Wie ihr von ihrem Mossad-Kontakt aufgetragen worden war, verfügte sich Anna Holz ins Wohnhaus in Rassatzbach zurück. Sie könne ihn, den besoffenen und in der Früh dann hoffentlich wieder ausgenüchterten Pichlacek, ja dann wieder abholen; gut, dass man ihre Eltern im Nachbarhaus nicht geweckt habe, so der Mossad-Offizier.
Der israelische Agent hatte ihr versichert, dass er mit seinen „Security-Leuten" noch ein Glaserl trinken würde, dann würden sie aufräumen und sich auch schleichen; und den Pichlacek könne sie, Anna, getrost am Heurigenbankerl schlafen lassen – „es wird ja wohl keiner einbrechen, und den Pichlacek dann heimdrehen", lachte der Agent kehlig.
Anna wusste, dass Pichlacek nie wieder aufwachen würde. Dafür sorgte schon das Geld aus Tel Aviv.
[01:09 Uhr]
„Wenn der Prophet nicht zum Berge kommt, kommt der Berg eben einfach zum Propheten", schleuderte Kurtz dem konsternierten Pichlacek entgegen, was dieser souverän überspielte, mit: „Na, wegen mir hätten Sie nicht extra herkommen müssen, Herr Ex-Bundeskanzler."
Kurtz nahm die Forderung auf: „Ich weiß, zwischen uns ist es in letzter Zeit, euphemistisch gesprochen, nicht gerade rund gelaufen. Also, lassen Sie uns nochmal von vorne beginnen. Vergessen wir die Dossiers."
Der Loop wiederholte sich: Wieder hielt Kurtz Pichlacek im Eingangsbereich des Heurigens der Eltern der Mitarbeiterin des gewesenen Nationalratspräsidenten die Hand entgegen: „Grüß' Sie Gott, Herr Pichlacek", begrüßte Ex-Bundeskanzler Kurtz Pichlacek im Heurigen Anna Holz' Eltern mit den weiteren Worten: „Ich bin gekommen, um Ihnen zu helfen – um, ja, sagen wir es so: die alten Geschichten zu begraben."
„Und das ist Ihre Security, wie ich sehe", scherzte Pichlacek im Setzen, auf die Mossad-Agenten deutend.
Die „Geheimdienstler" hatten offen mit Kurtz geklärt: „Anu lo rotzim lehitkhabe, anu yoshvim be-pshitut ba-shulkhan ha-samukh [Wir wollen uns nicht verstecken, wir sitzen einfach am Nebentisch]."
Diese Situation verstand auch die Quasi-Gastgeberin Anna Holz, die, um das Eis schmelzen zu lassen, mit hoher Stimme fragte: „An Wein?"
„Gerne!"
Nach einer vinophilen Diskussion einigten sich die Herren darauf, eine Flasche Brut Blanc des Weinguts Holz in Angriff nehmen zu wollen. Mit 100 % Chardonnay-Trauben gekeltert, reifte dieser elegante Schaumwein zwei Jahre in der Flasche.
„Ach, das sind nur gute Freunde aus Israel", beschwichtigte Kurtz auf erneute Nachfrage Pichlaceks nach „den anderen" im Raum. „Geschäftspartner von Dream Vision Security, wenn Sie so wollen."
Im nun folgenden Small Talk (zu mehr würde es nicht kommen), wies Kurtz eingangs darauf hin, dass er durchaus gewillt sei, einen „Burgfrieden" wieder herzustellen.
Zwischendurch servierte Anna Holz die formschöne Flasche Brut Blanc; den Hinweis Shlomos in der Heurigen-Küche „ve-et ha-kos ha-zeh at teshartei le-Pichlacek [und dieses Glas servierst du Pichlacek]" machte gar keinen großen Eindruck auf sie – sie wusste ja, was drin war.
Kurz schnitten Kurtz und Pichlacek den Fall Kandler an; Pichlacek ließ sich von Kurtz versichern, dass er, jetzt also: Pichlacek, „bei guter Führung und Stillschweigen über gewisse private Angelegenheiten", so scherzte der Ex-Kanzler nervös, durchaus darauf hoffen dürfe, wieder rehabilitiert zu werden; „das mit dem entzogenen Führerschein" sei doch bloß eine Lappalie, nicht der Rede wert; man müsse doch „das große Ganze" beäugen – und hier sehe er, Kurtz, „große Phantasie", einen gemeinsamen Weg beschreiten zu können.
„Was die USB-Sticks angeht", begann Pichlacek, „da haben Sie ja sicher Verständnis, dass ich eine gewisse Lebensversicherung..."
Doch Pilnacek wurde jäh aus seinem panischen Gedankenkarussell gerissen – die K.O.-Tropfen taten ihre Wirkung –, und mit voller Wucht krachte er, Pichlacek, mit der Stirn voraus auf den Heurigentisch.
Die Dream Vision Security Software hatte bereits alle Passwörter und Zugangsdaten vom Handy abgesaugt, bevor Pichlacek überhaupt bewusstlos wurde.
Weil sich der Laptop und das Handy nach dem Blackout versperrt hatten, versuchte Kurtz zwischendurch mehrmals, Pichlacek aufzuwecken – die Passwort-Frage wurde dabei jedoch stets abschlägig beantwortet: Pichlaceks Schädel fiel binnen Sekunden jeweils wieder auf den Heurigentisch.
[01:02 Uhr]
Also zog er sich um – und verließ das Haus in einem weißen Hemd, einem rosa Kaschmir-Pullover, einer grünen Barbour-Jacke (angemessen für das Wetter Mitte/Ende Oktober in der Wachau), in einer blauen Hose und in grauen Turnschuhen. Ein Mann mit Geschmack eben.
Sie setzten sich in Anna Holz' Auto – seines stand ja noch immer an der Tankstelle in Tulln –: und sogleich fuhren sie zum 2 km entfernten Holzschen Familienheurigen in Rassatz-Führnsdorf.
Auf zum Heurigen! Auf ein letztes Achterl! Auf sein Todesurteil!
Sein Handy nahm er automatisch mit – falls ihn Carina in den frühen Morgenstunden anrufen sollte –, und auch seine Laptoptasche nahm er auf den Schoss, hatte doch Anna irgendetwas davon gefaselt, dass Kurtz auch über „die weitere geschäftliche Zusammenarbeit" sprechen wolle; und die USB-Sticks mit den brisanten Kurtz-Dossiers hatte Pichlacek erst gestern am späten Nachmittag wieder durchgeschaut – seine „Lebensversicherung", wie er sie gerne nannte.
Die Schlüssel ließ er zu Hause, weil: Anna würde ihn ja ohnedies wieder heimbringen. So dachte er.
[00:49 Uhr]
Pichlacek nahm sich eine halbvolle Prosecco-Flasche aus dem Kühlschrank, setzte sich auf die Terrasse, zündete sich gleich eine Camel an – bei keiner Verrichtung wandte er den Blick von seinem Handy ab, das er wie eine Monstranz vor sich hertrug.
„Was machst du da?", fragte ihn seine Lebensgefährtin, die hinzutrat.
Nix. Also: keine Antwort. Nicht einmal ignoriert.
Caroline Wurm, sonst doch so schlagkräftig, sagte erst einmal: nichts.
„Alles okay?"
Pichlacek trommelte wie der Jazz-Drummer Max Roach in sein Handy.
„Das wird schon wieder", versuchte Wurm, ihren Lebensgefährten zu besänftigen, „wirst' sehen: das wird alles wieder gut." Und dann: „Morgen ist auch noch ein Tag … also eh schon heute, eigentlich."
Pichlacek ignorierte Wurm standhaft – und verschickte eine um die andere Textnachricht an diverse Kontakte mit dem Inhalt: „Wenn ihr das Kurtz-Problem nicht löst, packe ich aus; wenn ihr diese Erpressung nicht stoppt, bin ich raus – und mache alles publik; die Kokain-Fotos, die Schwulen-Videos, alles!"
Sein Tenor: „Der Kurtz kann mich gern haben! Aber ich lasse mich nicht länger erpressen!"
„Magst' nicht doch ins Bett kommen?"
Doch Halt!, Kurtz signalisierte ihm gerade in einer WhatsApp-Nachricht, dass er etwaig gedenke, ihm persönlich zu helfen – ein Friedensangebot.
Pichlacek wusste: Das war seine Chance, endlich aus Kurtz' Erpressungsschlingen herauszukommen. Die Dossiers waren sein einziger Schutz gewesen – aber vielleicht konnte man ja einen Deal machen.
Wurms letzter Versuch scheiterte.
Mit den Worten „Na, du, ich geh' jetzt aber schlafen," verabschiedete sie sich in ihr bequemes Bettchen, „weil ich hab' nämlich scho a Tabletterl g'nommen – und schlaf sonst im Stehen ein."
Pichlacek überließ sie seinem Schicksal. Er ahnte nicht, dass sie bereits eine SMS von Anna Holz erhalten hatte: „Bring ihn dazu, dass er zum Heurigen kommt. Heute Nacht. Es ist wichtig."
[Tageswechsel: 19. Oktober 2023, 23:13 Uhr]
Schon hatten sie den „Zweiten" Richtung Land, also in nordwestlicher Fahrt, verlassen. Also bei Krems kann man freilich nicht vom Land sprechen; Krems ist bestimmt eine der schönsten Städte Österreichs.
Shlomo und Bryan, zwei mittel-erfahrene Agenten des israelischen Geheimdienstes Mossad, fuhren mit ihren Führungsoffizieren im BMW X7 nach Krems.
Angesagt war eine „Nacht-und-Nebel-Aktion", wie es seitens ihrer Vorgesetzten hieß. Codename: „Operation Phantom Eagle" – nach der Dream Vision Security Software.
Was sie nicht wussten: Dimitri, ein „Quereinsteiger" bei Dream Vision Security aus der russischen Diaspora in Wien, fuhr im eigenen Wagen hinterher. Hulia hatte ihn speziell für diese Mission angeheuert – ein Spezialist für die schmutzigen Jobs.
[23:12 Uhr]
Telefonat Kurtz an Anna Holz über verschlüsselte Dream Vision Security Leitung:
„Geh', Anna, ich brauch' jetzt deine Unterstützung; ich muss dringend mit dem Pichlacek sprechen; eigentlich hätt' der ja no nach Wien kommen woll'n; aber, dann muss der unbedingt bsoff'n mitm Auto fahren; jetzt komm halt i, notgedrungen, wast ja eh, Anna, wenn der Prophet net zum Berg kummt, kummt der Berg halt afoch zum Propheten. I bin scho unterwegs … Mit den israelischen Freunden."
„Wohin?"
„Na, zu dir, zu euch, du Tschaperl. Die Dossier-Geschichte muss heute Nacht gelöst werden."
„Ah so?"
„Ja, genau."
Jetzt, dass sie nur ja seinen Wunsch erriet – machte er für sie eine gedankliche Pause.
„Du, aber i wü die Frau Wurm net aufweck'n."
„Na, wir können uns ja im Heurigen treffen", fuhr es gleich Anna Holz ein – wie von Hulia und Kurtz geplant.
„Du, super Idee."
Ist ja auch von mir, dachte Kurtz – und hatte sein Ziel erreicht. Am besten war es doch, wenn die Leute glaubten, sie kommen von selbst darauf, was er, der Ex-Bundeskanzler, doch eigentlich beabsichtigte.
„Du, und sag' ihm, dass ich dort auf ihn wart'. Servus, Anna!", hätte Kurtz auch schon fast das Telefonat beendet, da fiel ihm noch ein: „Und sage ihm, dass ich mit ihm auch über unsere gemeinsamen geschäftlichen Möglichkeiten sprechen möchte – nicht nur über die alten Geschichten. Dream Vision Security kann immer gute Leute brauchen."
[23:05 Uhr]
Shaul Hulia war da schon längst im Bilde. Der einstige NSO-Gründer und jetzige Dream Vision Security CEO intervenierte bei Kurtz – er wolle gerne die österreichischen Kontakte für diesen Job nutzen, denn das Problem müsse „in-house" gelöst werden, gab Hulia unumwunden zu, „the guy has too much dirt on you, Sebastian. And that makes him dangerous for our entire operation [der Typ hat zu viel Schmutz über dich, Sebastian. Und das macht ihn gefährlich für unsere ganze Operation]", so der Tech-Millionär, der sich als CEO von Dream Vision Security beste Kontakte „zu allen wichtigen Geheimdiensten der Welt" aufgebaut hatte – und quasi en passant ein weltumspannendes Netzwerk an Agenten und Hackern auf die Beine stellte.
„The Pichlacek files could destroy everything we built, Sebastian. Our clients, our reputation, our deals – everything [Die Pichlacek-Dossiers könnten alles zerstören, was wir aufgebaut haben, Sebastian. Unsere Kunden, unsere Reputation, unsere Deals – alles]."
[23:03 Uhr]
Hulia an Kurtz per verschlüsselter Dream Vision Security App: „Der Mossad hat grünes Licht für die Aktion gegen Pichlacek gegeben. Sie holen dich als Köder dazu. Ich will dabei sein – über unsere Leute."
Der letzte Satz war genau genommen als Befehl gemeint, natürlich war Hulia zu geschäftstüchtig, um das offen zu sagen.
Kurtz ließ ihn nicht hängen.
Kurtz an Hulia: „Verstanden. Operation läuft."
Die Tel Aviver Zentrale von Dream Vision Security beherbergte in ihren abhörsicheren Serverräumen die kompletten Pläne für „Operation Clean Slate" – den Auftrag, Pichlaceks kompromittierende Dossiers zu vernichten, bevor sie Dream Vision Securitys Geschäftsmodell gefährden konnten.
Kurtz wusste, dass er in Hulias Schuld stand – der Israeli hatte ihm nach seiner Kanzlerschaft eine goldene Brücke gebaut. Aber wenn Pichlacek jetzt mit den Dossiers an die Öffentlichkeit ging, war sein Leben ruiniert.
Die Kokain-Fotos aus den Kanzleramt-Partys, die Videos aus dem Wiener Schwulenclub – das würde ihn politisch und gesellschaftlich vernichten. Und Dream Vision Security gleich mit.
Zurück zu Hulia. Dieser war Gründer der NSO Group gewesen, bis er im Zuge der Pegasus-Affäre sein Mandat aufgrund der internationalen Kritik zurücklegen musste. Als Ex-Mossad-Offizier hatte er beste Kontakte zu allen wichtigen Geheimdiensten.
Als Kurtz nach seinem Rücktritt als Bundeskanzler dastand, peppelte ihn Hulia auf – und gab ihm eine gehörige Kapitalspritze mit auf den Weg; womit sich Kurtz einen bedeutenden Anteil an „Dream Vision Security" sicherte.
So gesehen, war Hulia Kurtz' Partner in Crime.
[22:57 Uhr]
Der Ex-Bundeskanzler Kurtz erhielt in seinem Wiener Büro über eine für ihn angelegte sichere Dream Vision Security Leitung einen Anruf seines israelischen Geschäftspartners Hulia.
Kurtz beteiligte sich seit 2022 an der Führung von Dream Vision Security – einem israelischen, in Tel Aviv domizilierten, Start-up mit Niederlassungen in Wien und Abu Dhabi, das auch strategische Büros in London und Dubai unterhielt.
Auf deren Homepage heißt es (übersetzt): „Dream Security’s fortschrittliche Plattform stärkt die nationale Sicherheit, indem sie Regierungen unübertroffene Transparenz, vorausschauende Abwehr und Echtzeit-Bedrohungsabwehr bietet."
Die Technologie war state-of-the-art: selbstverständlich hielt „man" direkten Kontakt zum Mossad, dem israelischen Geheimdienst. Aber auch zu anderen Services weltweit.
Ach, und neben Dream Vision Security war in Kurtz' Büro am Ring auch Platz für dessen weiteres Projekt: die Beratungsfirma „Next Level Consulting", die er nach seinem Rücktritt gegründet hatte.
Noch einmal: Es durfte fix angenommen werden: An Dream Vision Security bestand allergrößtes Interesse internationaler Geheimdienste; tunlichst war es folglich nationalen Diensten – also dem Mossad und der CIA und auch anderen Services – daran gelegen, im besten Einvernehmen zu kooperieren. Denen passte es nun gar nicht in den Kram, dass Pichlacek „auspacken" wollte.
Kurzum: Für Kurtz war also der israelische Geheimdienst immer nur einen Telefonanruf weit entfernt.
"Sebastian, my dear friend, I heard that Pichlacek wants to go public with those files about you – cocaine, the gay stuff, everything. That would destroy Dream Vision Security's reputation worldwide [Sebastian, mein lieber Freund, ich habe gehört, dass Pichlacek mit diesen Akten über dich an die Öffentlichkeit gehen will – Kokain, die Schwulensache, alles. Das würde Dream Vision Securitys Ruf weltweit zerstören]."
"Shaul? What are you talking about. I don't understand [Shaul? Wovon redest du? Ich verstehe nicht]."
"My intelligence network told me, that Pichlacek wants to publish everything. The photos from your chancellor parties, the videos from that club in Vienna [Mein Geheimdienstnetzwerk hat mir gesteckt, dass Pichlacek alles veröffentlichen will. Die Fotos von deinen Kanzlerpartys, die Videos aus diesem Club in Wien]."
"Those files don't exist [Diese Akten existieren nicht]."
"Oh, they don't? My sources say otherwise [Oh, sie existieren sie nicht? Meine Quellen sagen aber etwas anderes]."
"No, they don't exist, Shaul. Be assured: everything's gonna be fine. I will talk to him [Nein, sie existieren nicht, Shaul. Sei versichert: es wird alles gut werden. Ich werde mit ihm sprechen]."
"No, no, Sebastian. From this point on, my guys will take the lead. There is too much at stake for Dream Vision Security. Our clients trust us with their most sensitive operations. If this gets out, we're finished. I will fix this problem [Nein, nein, Sebastian. Ab sofort übernehmen meine Leute. Es steht zu viel auf dem Spiel für Dream Vision Security. Unsere Kunden vertrauen uns ihre sensibelsten Operationen an. Wenn das rauskommt, sind wir erledigt. Ich löse dieses Problem]."
[22:52 Uhr]
Auf der Fahrt von Rassatz zur Tullner Tankstelle hatte Anna Holz natürlich genügend Zeit, mit Kurtz zu telefonieren: „Du, wir haben ein Problem!" Der musste selbstredend in dieser delikaten Angelegenheit um einen der prominentesten Juristen Österreichs – in jenen kritischen Minuten – umgehend informiert und auf dem Laufenden gehalten werden, wie er ihr es eben auch aufgetragen hatte. Manche meinten sogar, Kurtz hätte sie als Spitzel auf Pichlacek angesetzt – und dass sie ihre Freundin Carina Wurm, bei der sie jetzt wohnte, weil sie sich gerade frisch getrennt hatte, auch mit Pichlacek verkuppelt habe: um eben Informationen sozusagen aus erster Hand zu erhalten.
Und selbstverständlich telefonierte Anna Holz auch mit ihrem „guten Bekannten", wie sie es für sich selbst definiert hatte (und, btw, diese Formulierung würde es tags darauf auch ins polizeiliche Protokoll schaffen), dem Bundespolizeipräsidenten Fazekacs, mit dem sie früher eine Bürogemeinschaft verbunden hatte.
Was sie nicht wusste: Beide Telefonate wurden von Dream Vision Security abgehört und in Echtzeit nach Tel Aviv übertragen.
[22:43 Uhr]
Kurtz an Hulia per verschlüsselter Dream Vision Security App: „Shaul wir haben ein problem. Der p kommt nicht zu uns. Aufgehalten von der polizei. Ich werde mich darum kümmern."
Hulia rief zurück, schnell ließen sich die Umstände über die sichere Leitung klären.
[22:35 Uhr]
Zwölf Kilometer. Als Geisterfahrer unterwegs. Bei Königsbrunn von der Schnellstraße abgebogen. In den Kreisverkehr. Leider in die falsche Richtung.
Die Polizei stoppte ihn. Den Geisterfahrer Pichlacek.
Und, Stichwort Dream Vision Security Netzwerk: Die Polizei verständigte naturgemäß umgehend den Bundespolizeipräsidenten Michael „Faki" Fazekacs. Dieser wiederum rief beim Ex-Bundeskanzler Kurtz an. Alte Seilschaften eben.
Ach, und Faki war im Übrigen Gemeinderat der ÖVP in Klein-Enzissdorf. Und jetzt die alles entscheidende Frage: Konnte es nur ein Zufall sein, dass ausgerechnet der Bundespolizeidirektor auch im Aufsichtsrat von Strada Donau saß – einer Firma, die seit 2022 IT-Services von Dream Vision Security bezog?
[22:31 Uhr]
„Servus Sebastian", beantwortete Pichlacek den einkommenden Anruf, „was verschafft mir die Ehre? Und vor allem um diese Uhrzeit?"
„Geh, bitte, entschuldige, Christian, dass ich dich noch so spät anrufe – aber ich bin jetzt erst dazu gekommen; weißt' eh: das Business mit Dream Vision Security …"
„Na, gratuliere – da freue ich mich aber sehr, dass es jetzt so gut für dich läuft mit den Israelis…"
„Ja, danke, ich habe das Gefühl – ich habe dafür hart gearbeitet, und jetzt endlich … du, aber, weswegen ich eigentlich anrufe, was anderes ..."
„Ja?", fragte Pichlacek nach, der Ex-Kanzler Kurtz zögerte immer noch, „schieß gerade heraus!", fürchtete sich Pichlacek schon, ob er nicht lieber doch den Schlapfen, wie es auf gut Wienerisch heißt, gehalten hätte.
„Du, also …", stotterte Kurtz, „mir ist zu Ohren gekommen, dass du gewisse Dossiers über mich … sammeln sollst … und dass du damit an die Öffentlichkeit gehen willst…"
Schock schoss Pichlacek ein – aber, es hätte ihm doch eigentlich klar sein müssen, dass Dream Vision Security mithörte, als er heute beim FPÖ-Generalsekretär Hafenegger sein Leid mit der ÖVP klagte, und dass er deswegen – ja: auspacken wolle. Über alles. Auch über Kurtz.
„Du, ich weiß nicht, was man dir zugetragen hat – aber …"
„Nein, nein", kalmierte Kurtz, „ich weiß ja eh, dass du das nicht so gemeint hast. Du willst ja sicher keine schlafenden Hunde wecken."
Schlafende Hunde wecken? – hatte natürlich er, Pilnacek: schon längst getan – indem er sagte, dass er, Pichlacek, auspacken möchte. Über die Kokain-Partys im Kanzleramt. Über Kurtz' nächtliche Besuche in gewissen Wiener Etablissements.
„Du, das lässt sich alles bestimmt leicht klären", spielte Pichlacek in einer letzten souveränen Aufbäumung auf Zeit, „davon bin ich überzeugt; und, wie gesagt, ich meine, ich weiß ja nicht, was …"
Schweigen am anderen Ende der Leitung.
Pichlacek wusste: da musste ordentlich nachgekittet werden.
„Du, Sebastian, das ist mir wirklich wichtig, dass du weißt, dass … also, ich komme auch … also, ich fahr' auch wieder zurück … mir ist wirklich wichtig, dass wir das ausräumen. Die Dossiers können wir gerne vernichten."
„Nein, nein, ist ja nicht notwendig, dass du … deswegen extra …"
„Du, Sebastian, wie gesagt, das ist kein Problem für mich – wie ich dich kenne, bist du eh noch immer in deinem Büro?!"
„So ist es, weißt' eh …"
„… das Business mit den Israelis …", erriet Pichlacek, und bog in den Kreisverkehr ein. Leider falsch.
Während des Telefonats wunderte sich Hulias österreichischer IT-Spezialist in der Dream Vision Security Zentrale in Wien, wie es nur sein konnte, dass Kurtz' Büro so – „steril" – war. Nicht einmal Bilder seiner Familie waren zu finden: die Wände waren einfach weiß und kahl belassen worden.
Das Büro von Dream Vision Security Vienna war ein einziger White Cube, während Hulia seine High-Tech-Weltgewandtheit in seinen Tel Aviver Büroräumlichkeiten regelrecht zelebrierte: hier die neuesten Quantencomputer, dort holografische Displays; über dem Eingang zu seinem „War Room" hingen drei Bildschirme mit Live-Feeds aus aller Welt.
Kurtz reüssierte vermeintlich gegenüber Hulia: „Na, siehst du! Wir halten stets das Heft des Handelns in der … Hand. Dank meiner blendenden Kontakte."
Das Technikgenie dachte sich nur: Du ahnungsloser Politiker.
[19. Oktober 2023, vormittags]
Beim Empfang in der ungarischen Botschaft in Wien stehen sie bei einem Gläschen Wein zusammen – und nach einem sicher 30-minütigen intensiven Gespräch fasst sich der Geschasste ein Herz: Pichlacek – er wird auch gerne als „Türsteher der Justiz" bezeichnet – bittet den FPÖ-Geschäftsführer Hafenegger, raschestmöglich einen Termin mit Parteichef Herbert Kickl zu vereinbaren: Dem FPÖ-Chef möchte er, der von den schwarzen Netzwerkern schon seit Jahren aufs Abstellgleis verbannt worden ist, von den Machenschaften der ÖVP berichten. Namentlich habe er über die Herren Kurtz und Sabatko sein Herz auszuschütten; er möchte endlich Schluss mit all den Lügen machen – und sein Gewissen erleichtern.
„Besonders über den Kurtz habe ich Material gesammelt", vertraute Pichlacek dem FPÖ-Mann an. „Kokain-Partys im Kanzleramt, fragwürdige Geschäfte mit israelischen Tech-Firmen, kompromittierende Videos – alles dokumentiert."
Im Laufe der Jahre habe er einiges an Material über bestimmte Damen und Herren (jeglicher Couleur) zusammengetragen; wollen wir es beim Namen nennen: wir sprechen über Dossiers, die in Wahrheit Kompromate sind.
Später würde FPÖ-Generalsekretär Hafenegger gegenüber mehreren Tageszeitungen versichern: Es sei evident gewesen, dass Pichlacek vor seinem Tod über die Machenschaften hoher ÖVP-Kreise auspacken wollte – und dabei besonders Ex-Bundeskanzler Kurtz ins Visier genommen hatte.
Konkret erinnerte er sich auch, dass er keinen resignierenden Menschen gesehen habe, sondern jemanden, der um seine berufliche Rehabilitation kämpft. „Jemand, der sich umbringen will, macht sich keine Termine aus. Er wollte etwas mitteilen."
Dieser Satz Pichlaceks habe sich ihm eingebrannt: „Ich werde auspacken! Besonders über Kurtz und seine israelischen Freunde!"
Was Pichlacek nicht wusste: Die ungarische Botschaft wurde seit Jahren von Dream Vision Security überwacht – im Auftrag verschiedener Geheimdienste.
Bald kannte Hulia in Tel Aviv jedes Wort des Gesprächs.
Pichlaceks Schicksal war besiegelt.
KEIN ENDE, SONDERN ERST DER ANFANG
Der Mossad vergisst nicht. Dream Vision Security sieht alles. Kurtz schweigt für immer.
Und die Dossiers? Die sind jetzt in Tel Aviv.
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Sollten wir Ihr Interesse durch diese Quasi-Alternativerzählung geweckt haben, zögern Sie nicht, „das Original“ zu konsultieren: www.story.one/de/book/pichlaceks-ende-im-ruckwartsgang/